19.04.2024
Startseite > Tourismus

Diese Seite einem Freund empfehlen.

 

Ihr Name:


Ihre E-Mail Adresse:


E-Mail Adresse des Empfängers:


30.06.2011

Auf den Spuren jüdischen Lebens in Erfurt

Erfurt (tour's/Michael Dur): Begleiten Sie uns auf einen Stadtrundgang durch Erfurt, bei dem wir uns auf die Spuren jüdischen Lebens in der Stadt konzentrieren wollen. Sabine Hahnel ist unsere sachkundige Stadtführerin. Wir befinden uns gerade unterhalb der Ägidienkirche, einer Brückenkopfkirche.  Sie liegt am Beginn der Krämerbrücke. Die jüdische Geschichte lässt sich nicht aus der Stadt herauslösen, dem Besucher ist sie auf Schritt und Tritt präsent. Die Krämerbrücke ist eine bebaute und bis heute noch bewohnte Brücke. Eine ungewöhnliche Eigenart der Brücke ist, dass beim Überqueren kein Wasser zu sehen ist. Das Wasser erschließt sich erst dem Auge des Betrachters, wenn die Brücke gequert ist und man sich nach links wendet.


Alte Synagoge wieder entdeckt

Wir lassen die Kreuzgasse rechts liegen und biegen dann nach wenigen Metern in die Michaelis Straße ein. Hier sind es dann nur wenige Meter, bis wir die alte Synagoge erreichen. Dem Auge des Betrachters bietet sich hier ein altes ehrwürdiges Gemäuer, welches vermuten lässt, dass es schon zahlreiche Jahrhunderte gesehen hat.

Der älteste Teil der alten Synagoge wurde um 1100 errichtet. 1270 wurde dann unter Einbeziehung der vorhandenen Gebäudeteile ein großer repräsentativer Synagogenbau errichten. Die westliche Wand wurde mit fünf Fenstern und einer großen Fensterrosette als Schaufassade gestaltet. Der Innenraum des Hauses wurde, wie regional üblich, von einem hölzernen Tonnen-Gewölbe überspannt.

Das einzige erhaltene Ausstellungsstück aus dieser Zeit ist ein Lichterband, ein umlaufendes Gesims auf dem Lampen aufgestellt wurden, mit deren Hilfe die Synagoge erleuchtet wurde. Um 1300 erweiterte man die Synagoge um einige Meter in Richtung Norden. Die neue Fassade wurde prächtig gestaltet und symmetrisch gegliedert. Man nimmt an, dass der Anbau die Frauensynagoge beherbergte, die traditionell vom Gebetstraum der Männer abgetrennt war. Weiter diente er wohl als Klassenraum für den Hebräisch-Unterricht der Knaben.

Der Stadt Erfurt eignete sich die Synagoge nach einem verheerenden Pogrom im Jahre 1349 an und verkaufte sie an einen Händler. Dieser baute das Gotteshaus zu einem Lagerspeicher um. Im späten 19. Jahrhundert wurde die ehemalige Synagoge zu einem Gasthaus umgebaut, welches über einen großzügig geschmückten Tanzsaal verfügte. Dieser Nutzung ist es zu verdanken, dass die alte Synagoge während des Dritten Reiches nicht als Synagoge erkannt wurde und somit diese Zeit unbeschadet überstanden hat.

1990 wurde die Synagoge wieder entdeckt und 1998 durch die Stadt Erfurt zurückgekauft. Bei der Sanierung der Synagoge wurden die Spuren der verschiedenen Nutzungen erhalten. Störende Anbauten und Nebengebäude wurden zurückgebaut, um auch von außen einen angemessenen Blick auf die Synagogenfassade zu ermöglichen. Die Räume der alten Synagoge werden heute als Museum für Kultur und Geschichte der jüdischen Gemeinde Erfurts im Mittelalter genutzt.

Am 27.10.2009 wurde das zugleich „älteste und jüngste Museum der Stadt“, so nannte es der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Brausewein, der Öffentlichkeit übergeben. Mit großem Interesse betrachten wir das alte sakrale Gebäude. Wir ahnen noch nicht, welche Kostbarkeiten uns hier erwarten.

Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 10:00 - 18:00 Uhr geöffnet.
Eintritt:
Erwachsene:  5,00 €
Schüler/Studenten bis 27 Jahre: 1,50 €
Schulklassen und Kitagruppen
im Rahmen von Unterricht: Eintritt frei
Jeder 1. Samstag des Monats: Eintritt frei
Führung für Schulklassen und
Kitagruppen im Rahmen von Unterricht: Eintritt frei



Die Alte Synagoge birgt einen Schatz

Wir betreten die ehrwürdigen Räume der alten Synagoge. Das gedämpfte Licht, eine respektvolle Ruhe und zahlreiche sakrale Gegenstände und Exponate lassen bei uns das Gefühl für die geschichtliche Erhabenheit des Hauses entstehen. Der Höhepunkt der Exposition in der Alten Synagoge ist der Erfurter Schatz, der nach Stationen in Speyer, Paris, New York und London  dauerhaft im Keller des europaweit einzigartigen Baudenkmals Alte Synagoge Erfurt gezeigt wird.

Bei einer archäologischen Grabung in der Innenstadt wurde 1998 dieser einmalige Schatz entdeckt und geborgen. Buchstäblich in letzter Minute bevor neue Fundamente gegossen wurden bahnte sich eine archäologische Sensation an. Im Staub und Geröll, unter der Mauer eines Kellerzugangs, begann es plötzlich zu glitzern und zu gleißen. Im Lichtstrahl der archäologischen Arbeitsbeleuchtung glitzerten zunächst einige Silbermünzen und Barren. Nachdem man an dieser Stelle behutsam weiter gegraben hatte, stieß man auf einen sensationellen Schatz. Mit einem Gesamtgewicht von 30 kg boten sich dem Betrachter kostbare Goldschmiedearbeiten, Schmuckstücke, Münzen, Barren und edles Silbergeschirr. Bis zu dem Pestpogrom 1349 wurde das Viertel des Fundortes von der ersten jüdischen Gemeinde bewohnt. Man nimmt an, dass ein jüdischer Kaufmann mit Sicht auf das drohende Pogrom seinen wertvollen Schatz verborgen hatte.

Man muss davon ausgehen, dass er ermordet wurde und so keine Möglichkeit mehr hatte seinen Schatz später zu bergen. Der größte Teil des Schatzes besteht aus Silbermünzen und silbernen Barren, die in dieser Zeit als gängige Zahlungsmittel galten. Daneben sind es vor allem die außergewöhnlichen gotischen Goldschmiedearbeiten, die den hohen Wert des Schatzes darstellen. Das bedeutendste Stück des Erfurter Schatzfundes ist ein jüdischer Hochzeitring, der in der damaligen Zeit ein grundlegender Bestandteil der jüdischen Hochzeitszeremonie war. Er wird auf das frühe 14. Jahrhundert datiert. Er besteht aus reinem Gold und ist 5 cm hoch. Nach der mittelalterlichen jüdischen Tradition durfte der Ring nicht mit Steinen verziert sein. Der Ring wurde nur zur Zeremonie der Eheschließung getragen. Die ineinandergreifenden Hände an der Unterseite des Ringes sind ein Symbol für Verbundenheit und Treue. Zwei geflügelte Drachen tragen ein Miniaturgebäude, welches wahrscheinlich den im Jahre 70 nach Christus zerstörten Herodianischen Tempel in Jerusalem symbolisiert. Spitzbogenarkaden tragen das hohe goldene Dach mit einer Inschrift in hebräischen Buchstaben, masel tow – viel Glück. Auch heute noch rufen Verwandte und Freunde bei einer jüdischen Trauung den Wunsch, masel tow - viel Glück, aus. Innerhalb des kleinen Gebäudes im oberen Teil des Ringes befindet sich eine kleines goldenes Kügelchen, es erzeugt bei Bewegung einen zarten nahezu überirdischen Klang.


Judeneid in deutscher Sprache

Es ist der älteste Judeneid in deutscher Sprache, der sich in einer gläsernen Schatulle unseren Augen bietet. Exakt gemalte gotische Buchstaben verleihen dem mittelhochdeutschen Dokument eine faszinierende Ausstrahlung, die noch durch das angehängte Wachssiegel verstärkt wird. Vor uns liegt der Erfurter Judeneid, geschrieben vor 1200. Dieses Dokument wurde die Basis für eine Rechtstradition. Das Erfurter Dokument enthielt noch keine entehrenden Zusätze, wie sie später üblich wurden. Das Wachssiegel hängt an farbigen seidenen Fäden und zeigt das Bild des heiligen Martin im Bischofsornat. In dieser Zeit war der Bischof für den Schutz der Juden verantwortlich.

Anstelle des christlichen Eids vor Gericht schuf man für Juden eine Formel, welche mit Bezug auf das Alte Testament vor Meineid warnte. Das Dokument hatte verbindlichen rechtlichen Charakter. Durch die Eidesformel war jeder angeklagte Jude vor einem christlichen Gericht in der Lage Widerspruch einzulegen und Rechtsgeschäfte zu tätigen.

Das Dokument ist ein Zeugnis dafür, dass ein Zusammenleben von Christen und Juden bei beidseitigem guten Willen möglich war.


Handschriften zeugen von einer hohen Kultur

Der Rabbiner Alexander Süßkind ha-Kohen wurde anlässlich des Pestpogroms 1349 in Erfurt ermordet. Man nimmt an, dass er in der Stadt geboren wurde. Er hatte einen bedeutenden Ruf. Die geistige Blüte der ersten jüdischen Gemeinde in Erfurt wird neben den Schriften von Süßkind durch die sogenannten Erfurter hebräischen Handschriften aufgezeigt. Diese Handschriften werden heute in der Staatsbibliothek Berlin verwahrt. Sie unterstreichen den Rang der Erfurter Gemeinde. Hierzu gehören auch die größte hebräische Bibelhandschrift und eine riesige Thorarolle aus dem Mittelalter sowie die älteste Thorahandschrift.

Nachdem Pogrom, hat der Erfurter Rat diese Manuskripte an sich gebracht. Sie wurden später nach Berlin verkauft. Die Ausstellung in der alten Synagoge zeigt die wertvollen Handschriften im ehemaligen Tanzsaal.

Die zweibändige hebräische Bibel (Erfurt I) wurde 1343 beendet, jeder Teil liegt allein fast 50 kg. Die Haut von mehr als 1100 Tieren wurde für die Herstellung des Pergaments benötigt. Der Text ist in Hebräisch verfasst und beinhaltet eine armäische Übersetzung.

Aus dem 14. Jahrhundert stammt der Erfurter Machsor, ein in Jahres Zyklus zu lesendes Gebetbuch. Die Thorarolle ist die älteste bekannte Rolle im aschkenasischen Raum.

Dem Besucher der Ausstellung erschließt sich die besondere Bedeutung der Juden für Handel und Kultur des Mittelalters.


Ein Besuch in der kleinen Synagoge

Am 10. Juli 1840 wurde die Synagoge durch den Rabbiner Dr. Ludwig Philippson eingeweiht. Man nennt sie heute "Kleine Synagoge". Es handelte sich um einen zweigeschossigen Bau mit klassizistisch geprägter Fassade und Innenausstattung.

Im Keller befand sich eine Mikwe. 1884 wurde die Kleine Synagoge aufgegeben. Man hatte ein größeres Gotteshaus errichtet. Die Thorarolle wurde in einem feierlichen Zug durch die Stadt zur neuen Synagoge getragen. Die Kleine Synagoge wurde an einen Wein- und Spirituosenhändler verkauft. Der erzielte Erlös wurde für den Aufbau der neuen Synagoge verwendet. Der Händler hat eine Zwischendecke eingezogen und im Obergeschoss zwei Wohnungen hergerichtet. Im Erdgeschoss wurden Zwischenwände errichtet, Fenster wurden zugemauert und das Haus war nicht mehr als sakraler Bau zu erkennen. 1916 verkaufte der Händler aus Altersgründen das Haus an die Stadt. Die Stadt hat dann in den unteren Teil auch zwei Wohnungen eingebaut. Erst 1994 ist der letzte Mieter aus dem Haus ausgezogen. Das Haus befand sich, wie viele Häuser in der Altstadt, in einem desolaten Zustand. Zwei Erfurter Historiker wussten um die Geschichte des Hauses und haben ab 1991 eine intensive Lobbyarbeit betrieben, mit dem Ziel des Rückbaus des Hauses zur Synagoge. 1994 wurde begonnen, das Haus komplett zu entkernen. Dabei wurde der alte Thoraschrein wieder gefunden der durch eine Bretterwand zugebaut war.

In Abstimmung mit der jüdischen Gemeinde von Erfurt wurde das Haus zu einer Begegnungsstätte umgebaut. Die Gemeinde bestand 1990 etwa aus 25 Personen. Inzwischen ist sie auf 750 Mitglieder gewachsen. Es sind in der Hauptsache zugewanderte Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Die nach 1945 zugewanderten Juden haben sich in Erfurt niedergelassen, da in allen anderen Gemeinden die Juden vertrieben und ermordet worden waren. Nur in Erfurt gab es einen kleinen Kern einer sich wieder bildenden jüdischen Gemeinde.

Heute findet im Hause ein vielfältiges kulturelles Leben statt. Ziel der Veranstaltung im Hause ist es für Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Angehörigen andere Nationen zu werben. 80% der Veranstaltungen beschäftigen sich mit dem Judentum.


Geplanter Zufall, der Fund einer Mikwe

Für Laien sind es auf den ersten Blick nur alte Mauern, welche von Erdmassen verdeckt, jetzt akribisch freigelegt wurden. Es war ein "bewusster Zufallsfund" wird im thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie über den Fund des Ritualbades (Mikwe) in der Nähe der Erfurter Krämerbrücke 2007 gespöttelt. Eine einstürzende Ufermauer und der Plan für eine neue Gestaltung des Areals boten den Archäologen Anlass für die Grabungen. Das qualitätvolle gotische Mauerwerk und die Kragsteine auf Fußbodenhöhe erweckten Aufmerksamkeit. Dabei wurde das Ritualbad gefunden.

Die Arbeiten innerhalb der Mikwe konnten im Herbst 2008 abgeschlossen werden, inzwischen ist die Rekonstruktion möglich. Eine erste Anlage des Bades, dessen Besuch für Frauen nach Menstruation und Entbindung, für beide Geschlechter nach Berührung mit Toten sowie zum Kaschern von Geschirr unerlässlich war, stammt aus romanischer Zeit. Mörtelanalysen des Kalksteinmauerwerks lassen diese Folgerung zu.


Besuch eines jüdischen Gottesdienstes

Nach dem Besuch des jüdischen Friedhofs ist unsere überwiegend christliche Gruppe zu einem Sabbat-Gottesdienst eingeladen. Vor dem Gottesdienst bleibt nur wenig Zeit zur Diskussion. Ein großes Problem in der jüdischen Gemeinde, so erklärt uns Herr Nossen, er ist der Leiter der jüdischen Gemeinde, ist die Überalterung. Die jungen Juden zieht es in die Welt hinaus und es bleiben überwiegend nur die Alten hier. Bei den aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Juden fehlt weitestgehend das Wissen über jüdische Sitten und Gebräuche. Die Gemeinde ist bemüht, das hier vorhandene Informationsdefizit auszugleichen.

Bei dem Betreten der Synagoge wird den überwiegend unbehüteten Männern eine Kippa gereicht, so kann, wie es die Sitte vorschreibt, das Haupt bedeckt werden. Unsere Gruppe besteht aus etwa 20 Personen. Jetzt zum Beginn Messe betreten etwa 20 Gemeindemitglieder  das Gotteshaus. Es sind überwiegend ältere Frauen, es gibt auch einige jüngere Männer und einen etwa sechsjährigen Jungen. Ein großer schlanker weißhaariger Herr, er ist mit einem edlen Tuch gewandet, tritt zum Altar. Er bringt das Tuch in eine vorgeschriebene Form und beginnt mit den liturgischen Gesängen. Die Liedtexte sind überwiegend russisch, zum Teil aber auch hebräisch. Während des Gottesdienstes sitzen die Gläubigen, wenn das Ritual es vorschreibt erheben sie sich zur Ehre des Herrn.

Der Weißhaarige hat einen herrlichen tragenden Bariton. Die Melodien sind sehr schön. Sie umschmeicheln die Seele und das Ohr. Auch als Nichtjude fühlt man sich angesprochen und zuhause. Die Gemeindemitglieder stimmen in den Gesang ein. Auch die Gäste würden gerne mitsingen aber es fehlt Ihnen der Text. Die Textbücher haben hebräische Schriftzeichen. Abgesehen von der für die Ohren der deutschen fremden Sprache, erscheinen die Rituale des Gottesdienstes mit denen einer christlichen Kirche vergleichbar. In diesem Gotteshaus scheint es völlig unverständlich, dass es zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Religionen so viele Missverständnisse und so viel Gewalt mit furchtbaren Folgen gegeben hat. Nach dem Gottesdienst geben sich Juden und Christen die Hand und wünschen sich „gut Schabbes“.

 

 


© Nebelhorn Verlag 2011